Handarbeiten an der Waldorfschule

Mit den Fingern denken lernen

Unser Handarbeitsunterricht gibt dem heranwachsenden Kind eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Zunächst kann es sich schöpferisch verschiedene Stoffe erschließen, sie in eine neue Form verwandeln und gleichzeitig damit Sinnvolles und Schönes schaffen. Durch dieses sinnvolle Arbeiten entwickeln sich die Hände immer mehr zu geschickten Werkzeugen, vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten können sich zeigen und aufblühen. Ganz wichtig ist dabei, dass nicht nur Neues kreiert, sondern mit der Tätigkeit der Hände die Denkfähigkeit trainiert wird, denn die Vernetzung der beiden Hirnhälften wird hierdurch angeregt und ermöglicht so eine komplexe Erkenntnis der Welt. Der von der modernen Hirnforschung nachgewiesene Zusammenhang zwischen motorischer, besonders feinmotorischer Bewegung und Intelligenzentwicklung bei Kindern wird von den Waldorfschulen methodisch-didaktisch schon seit mehr als 100 Jahren berücksichtigt.

Kreativität schon für die Jüngsten

In den ersten Schuljahren üben die Kinder in der Unterstufe die Beweglichkeit der Hände. Mit Hilfe von Fingerspielen, Versen und Reimen zu Beginn der Handarbeitsstunde werden sie als ganzes Individuum kreativ eingestimmt. Die Freude am Tun sowie das rhythmische Arbeiten beim Stricken und Häkeln fördern die Konzentration, die Willenskraft und helfen den Schüler*innen, beständig zu sein – sozusagen durchzuhalten und nicht „den Faden zu verlieren“.

Im ersten und zweiten Schuljahr wird mit dem Stricken das zuerst beidhändige Arbeiten trainiert. Schon von Anfang an werden sinnvolle kleine Dinge angefertigt, wie ein Ball und ein Flötenbeutel. Im Laufe der zweiten Klasse wird zum einhändigen Arbeiten gewechselt und mit dem Häkeln eines Ball- oder Einkaufsnetzes die dominante Hand geschult. Erste Bekleidungsstücke wie Mützen folgen in der dritten Klasse. Ab der Vierten dient das Sticken und Nähen, zum Beispiel einer mit Kreuzstichen gestalteten Tasche, dem weiteren Schulen der Feinmotorik, der Konzentration und dem genauen und doch künstlerischen Arbeiten. Und die Werkstücke bleiben natürlich lange Jahre eine tolle Erinnerung.

In der Mittelstufe Sinnvolles selbst herstellen

Nach dem Erwerb der Grundfähigkeiten im Nähen, Stricken, Sticken und Häkeln folgt nun ab der Mittelstufe das Vertiefen und Erweitern dieser Kenntnisse. Mit dem Fertigen von Strümpfen oder Handschuhen wird in der fünften Klasse das Stricken wieder aufgenommen. Im sechsten Schuljahr folgt das Nähen eines Tieres und einer Puppe, dem das Anfertigen von Skizzen sowie des eigenen Schnittmusters vorausging.

Hausschuhe oder auch eine Schürze werden in der siebten Klasse zunächst von Hand angefertigt. In der weiteren siebten und achten Klasse lernen die Schüler*innen dann die Nähmaschine zu gebrauchen, zunächst die Tret-, anschließend auch die elektrische Nähmaschine. Der „Nähmaschinen-Führerschein“ ist für viele ein Highlight und offizieller Beweis ihrer Fertigkeiten. Für das Klassenspiel in der achten Klassenstufe werden die Kostüme alle selbst genäht. Das nimmt einen wichtigen Raum ein und ist der Höhepunkt des Nähens in der Mittelstufe.

Weben und Schneidern in der Oberstufe

Anders als an staatlichen Schulen, zieht sich der Handarbeitsunterricht an der Waldorfschule bis in die hohen Jahrgangsstufen hinein. In der neunten Klasse werden die Grundkenntnisse des Webens erarbeitet. Anschließend wird auf einem Großwebrahmen ein eigener Teppich konzipiert und schließlich selbst aus Schurwolle gewebt.

In der Schneiderepoche der zehnten Klasse wird ein Bekleidungsstück hergestellt. Die Schüler erarbeiten eine Hose, ein Hemd oder Kleid für sich. Dabei werden grundlegende Fertigkeiten im Umgang mit Schnittmustern, Zuschnitt, Maßnehmen und natürlich der Bekleidungsfertigung an sich vermittelt.

Gleich von der ersten Klasse an bis in die Oberstufe hinein lernen alle Schüler*innen im Handarbeitsunterricht unserer Waldorfschule künstlerisch gestaltete und nützliche Dinge für andere Menschen und für sich selbst anzufertigen. Die Fingerfertigkeit, die sich die Kinder und später die Jugendlichen mit der Handarbeit erwerben, wirkt sich auf ihre gesamte Entwicklung aus. Stolz und Wertschätzung für die erschaffenen Dinge sind dabei nur ein Teil des Erfolges. Mit jeder feinen Bewegung formt sich das Gehirn differenzierter. Je geschickter die Kinder ihre Finger bewegen, desto lebendiger werden auch ihre Gedanken.

 „Viele wissen gar nicht, was man für ein gesundes Denken, für eine gesunde Logik hat, wenn man Stricken kann.“

erklärte Rudolf Steiner das Phänomen schon damals.
(Gesamtausgabe 306/S. 142)